• Der vollständige Text mit Anmerkungen.

    Eine Stelle aus Rousseaus Werk ›Julie ou la Nouvelle Héloïse‹ hat Kleist als Vorlage benutzt und überspitzt, so dass es die braven Schüler gruselte, die diese inzestartige Szene lesen mussten.

     

    "Sie vernahm, da sie mit sanft an die Tür gelegtem Ohr horchte, ein leises, eben verhallendes Gelispel, das, wie es ihr schien, von der Marquise kam; und, wie sie durchs Schlüsselloch bemerkte, saß sie auch auf des Kommandanten Schoß, was er sonst in seinem Leben nicht zugegeben hatte. Drauf endlich öffnete sie die Tür, und sah nun – und das Herz quoll ihr vor Freuden empor: die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küßte sie. Die Mutter fühlte sich, wie eine Selige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden war, zu stören. Sie nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war, sich um den Stuhl herumbeugend, von der Seite an. Der Kommandant schlug, bei ihrem Anblick, das Gesicht schon wieder ganz kraus nieder, und wollte etwas sagen; doch sie rief: o was für ein Gesicht ist das! küßte es jetzt auch ihrerseits in Ordnung, und machte der Rührung durch Scherzen ein Ende. Sie lud und führte beide, die wie Brautleute gingen, zur Abendtafel, an welcher der Kommandant zwar sehr heiter war, aber noch von Zeit zu Zeit schluchzte, wenig aß und sprach, auf den Teller niedersah, und mit der Hand seiner Tochter spielte."

    Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-marquise-von-o-1-580/1

     


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  • Erdogans Reich

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     Andrer Bürger:

    Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
    Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
    Wenn hinten, weit, in der Türkei,
    Die Völker aufeinander schlagen.
    Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
    Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
    Dann kehrt man abends froh nach Haus,
    Und segnet Fried und Friedenszeiten.

    Dritter Bürger:

    Herr Nachbar, ja! so laß ich's auch geschehn:
    Sie mögen sich die Köpfe spalten,
    Mag alles durcheinander gehn;
    Doch nur zu Hause bleib's beim alten.

    Goethe, Faust I, Osterspaziergang


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  • Was ist die Welt?   (Hugo von Hofmannsthal, geboren am 1. Februar)

    Was ist die Welt? Ein ewiges Gedicht,Verhallt, verloschen und verblüht
    Daraus der Geist der Gottheit strahlt und glüht,
    Daraus der Wein der Weisheit schäumt und sprüht,
    Daraus der Laut der Liebe zu uns spricht

    Und jedes Menschen wechselndes Gemüt,
    Ein Strahl ists, der aus dieser Sonne bricht,
    Ein Vers, der sich an tausend andre flicht,
    Der unbemerkt verhallt, verlischt, verblüht.

    Und doch auch eine Welt für sich allein,
    Voll süß-geheimer, nievernommner Töne,
    Begabt mit eigner, unentweihter Schöne, 

    Und keines Andern Nachhall, Widerschein.
    Und wenn du gar zu lesen drin verstündest,
    Ein Buch, das du im Leben nicht ergründest.


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  • Pierre Bergé, der Lebensgefährte von Yves Saint-Laurent, verkauft seine Bibliothek, darunter auch ein Manuskript von André Bretons "Nadja". Ich habe nur das Taschenbuch, aber vielleicht leiht mir jemand die angesetzten 2,5 bis 3,5 Millionen.

     


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    Stufen

     

    Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

    Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

    Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

    Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

     

    Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

    Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

    Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

    In andre, neue Bindungen zu geben.

     

    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

    Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

     

    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

    An keinem wie an einer Heimat hängen,

    Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

    Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

     

    Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

    Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

    Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

    Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

     

    Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

    Uns neuen Räumen jung entgegensenden,

    Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…

    Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

     

    Hermann Hesse


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